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Furcht vor den "Verlierern der Zukunft"

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Friedrichshafen / sz - Seit November kümmert sich Yalcin Bayraktar im Bodenseekreis um die Verständigung zwischen Alteingesessenen und Menschen aus aller Herren Länder, die hier als Fachkraft, Flüchtling oder Gast Fuß fassen müssen. Hagen Schönherr hat er erzählt, warum ihm seine eigenen Erfahrungen bei diesem Job helfen, was hinter dem Wort "Integration" wirklich steckt - und warum Pegida am See derzeit keine Chance hätte.

Herr Bayraktar, Sie haben einen "Migrationshintergrund". Und zwar nicht, weil Sie aus Bopfingen stammen...

Ja, in Bopfingen bin ich geboren. Aber mein Opa kam als Gastarbeiter in den 60er-Jahren nach Deutschland. Meine Mutter wurde aus der Türkei nachgeholt und hat irgendwann meinen Vater aus dem gleichen Dorf geheiratet. Das ist meine Geschichte, die typische Geschichte eines Gastarbeiterkinds. Später habe ich in Augsburg studiert und mich dort für Migranten engagiert - zum Beispiel im türkischen Elternbeirat. Im Beruf habe ich unter anderem Sprachkurse und Integrationskurse in Ulm gegeben. Es folgten weitere Stellen in der Integrationsarbeit, unter anderem an der Claude-Dornier-Schule in Friedrichshafen. Nach Zwischenstationen wie Biberach bin ich in den Bodenseekreis gekommen. Und jetzt habe ich die Chance, mich hier als Integrationsbeauftragter zu engagieren.

Hilft Ihre Herkunft im neuen Job?

Als ich von der vierten Klasse aufs Gymnasium kam habe ich Folgendes erlebt: Meine Eltern kannten das hiesige Schulsystem nicht. Zu mir hat zum Beispiel keiner gesagt: "Junge, mach doch zuerst mal Englisch statt Latein. Du hast doch schon zwei Sprachen und tust dir sonst schwer." Ich bin dadurch ins Straucheln geraten und vielleicht war das der Grund, dass ich erkannt habe: Viele Migrantenkinder haben Potential, aber sie werden nicht richtig gefördert. Das hat mich beschäftigt und ist vielleicht eine Art Schlüsselerlebnis für meine Berufslaufbahn.

Was ist die Realität, die hinter den abstrakten Worten "Migration" und "Integration" steckt?

Da erinnere ich mich an eine Karikatur, die folgende Situation im Pflegeheim aufgriff: Eine Dame versucht einen älteren Muslim mit dem Löffel zu füttern. Er sagt ständig: "Ramadan! Ramadan!" und wollte nichts essen. Auf solche Situationen müssen wir vorbereitet sein, das nenne ich Integration. Sie funktioniert nicht ausschließlich, indem die Politik sagt, wir müssten dieses und jenes tun - Integration funktioniert vorwiegend im Alltag. Im Beispiel von gerade eben bedeutet das: Wir brauchen etwas das wir "kultursensible Pflege" nennen. Im Bodenseekreis haben sich das Rote Kreuz und einige türkische Organisationen zusammengetan, um das Thema aufzugreifen. Mein Job ist, auch in anderen Bereichen zu prüfen: Wo gibt es noch welche Bedarfe - und wo müssen wir jetzt ähnliche Entwicklungen anstoßen?

Was wäre der richtige Gedanke?

Konstruktive Ansätze sind wichtiger als die Schuldfrage. Wir wollen und müssen versuchen, jeden Menschen mitzunehmen und seine Fähigkeiten für die Gesellschaft zu nutzen. Wenn wir das nicht machen und keine Strategie haben, spielen wir am Ende nur noch Feuerwehr und rennen den Problemen einzeln hinterher. Wenn wir aber im Vorfeld etwas tun, Menschen ausbilden und beraten und ihnen im Alltag helfen, dann bleibt uns möglicherweise vieles erspart. Wir als Gesellschaft profitieren, wenn wir nicht die Verlierer der Zukunft produzieren. Zuwanderung ist eine Chance. Wir brauchen die Arbeitskraft dieser Menschen - auch weil wir der Überalterung unserer Gesellschaft entgegenwirken müssen.

Wir haben im Bodenseekreis einen Migrantenanteil von fast 25 Prozent. Was können Sie allein bewirken?

Ich bin gar nicht allein auf diesem Feld. Friedrichshafen zum Beispiel ist sehr bunt, eine Arbeiterstadt. Dort gibt es schon seit vielen Jahren eine gute Integrationsarbeit. Die Stadt Überlingen hat beispielsweise vor einigen Jahren an einem dreijährigen Projekt zur Diversität teilgenommen und ist mit dem Runden Tische für Integration und Vielfalt aktiv. Wir haben im Kreis eine Menge an Organisationen und ehrenamtliche Helferkreise, die Integrationsarbeit unterstützen. Es geht jetzt mehr um die Frage: Wie können wir dieses System verbessern? Außerdem gibt es sicherlich andere Flecken im Kreis, da müssten wir vielleicht etwas mehr machen.

Würden Sie Pegida-Bewegung eigentlich im Kreis ausschließen?

Schauen Sie sich die Statistiken an: dort, wo Pegida und Co. am stärksten ist, ist der Anteil der Ausländer am geringsten. Also liegen doch die Probleme eher woanders, wie bei der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer eigenen Situation oder der Politik. Das bedeutet aber auch, dass wir regelmäßig etwas für das friedliche Miteinander tun müssen, da wirtschaftliche Krisen schnell Minderheiten zu "schwarzen Schafen" der Gesellschaft machen. Das gilt auch hier. Wir sind eine Region, die immer Zuwanderung kannte und der es touristisch und wirtschaftlich sehr gut geht. Das dämpft solche Entwicklungen. Wir profitieren stark von dieser Vielfalt und wissen das zum Glück zu schätzen.


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