Friedrichshafen / sz - Es hat nach einem Desaster ausgesehen, so wenige Besucher sind am Montagabend bis kurz vor der Lesung von Ulrich Raulff in den Kiesel gekommen. Doch dann erschien eine starke Gruppe eines Häfler beruflichen Gymnasiums und rettete wenigstens vordergründig den Ruf der Zeppelinstadt. Wenn ein Mann, der lange als Feuilletonchef der FAZ, dann in ähnlicher Position bei der Süddeutschen Zeitung tätig war und seit elf Jahren das Marbacher Literaturarchiv leitet, in sehr persönlichen Schilderungen seine Studentenzeit und damit den Geist der siebziger Jahre lebendig werden lässt, hätte man einen Riesenandrang erwartet.
Der schlanke, drahtige Mittsechziger in unauffällig gepflegter Kleidung steht in krassem Gegensatz zu den 68ern, deren Nachwehen er gerade noch im etwas verschlafenen Marburg erleben durfte: "Das Fest – oder der Spuk – war vorbei." In seinem Buch "Wiedersehen mit den Siebzigern – Die wilden Jahre des Lesens" blickt Raulff in die Uni-Bibliotheken wie in die WGs, im Kiesel erzählt und liest er mit sichtlicher Freude: "Ich erzähle Ihnen heute die reine Wahrheit."
Er spricht von den geistigen Abenteuern der damaligen akademischen Jugend, die einen "eigentümlichen Willen zum Wissen", ein "panisches Interesse, alles zu verstehen" hatte und festen Glaubens war, dass es nur besser werden könne: "Wir haben der Zukunft noch sehr viel Gutes zugetraut." Er habe sich beim Schreiben für die Ich-Form entschieden, statt in der 3. Person zu schreiben, da Letztere zu sehr zum Ausschmücken einlade.
Eine kleine Zeitreise
Schnelle Schnitte vermitteln plastische Eindrücke. Man hat das Gefühl, selbst wieder im Hörsaal zu sitzen, unterschiedlichste Hochschullehrer zu erleben und vor große Fragen gestellt zu werden. Es ist der Blick in eine Zeit, in der die Universitäten noch nicht verschult waren und Freiheiten boten, sich individuell zu entwickeln. Wenn man gar zu neugierig war, wenn man spürte, dass das eigentlich spannende neue Denken bei den Strukturalisten in Paris stattfand, dann hat man sich eben ein Stipendium besorgt und in einer völlig anderen Umgebung erlebt, was wirkliches Denken bedeutet. Zwischenspiele in Berlin zeigten ihm, dass Paris doch wesentlich attraktiver war, und so kehrte er noch einmal dorthin zurück.
Ulrich Raulff vermittelt so viel vom Lebensgefühl der "Generation Theorie", lässt nebenbei durchscheinen, dass es nicht nur ums Studieren ging. Aus seinen persönlichen Betrachtungen entsteht ein sehr lebendiges Zeitbild der siebziger Jahre. Natürlich konnte sich nicht jeder so ein freies Studium erlauben, aber nicht jeder verstand es so gut, die damalige Zeit mit allen Sinnen zu erfassen. Dass Raulff promoviert, ja habilitiert ist, kam nebenbei zur Sprache. War ja auch hier nicht so wichtig.
In der anschließenden Fragerunde ging es hauptsächlich um das Marbacher Literaturarchiv, um die neuesten Meldungen Heidegger betreffend.