Friedrichshafen / sz - Mit einer überraschend ernsten Neujahrsansprache ist EU-Digitalkommissar Günther Oettinger am Sonntag vor 1700 Gäste beim Häfler Neujahrsempfang getreten. Im Graf-Zeppelin-Haus zeichnete der prominente Gastredner und Ex-Ministerpräsident des Landes ein mitunter düsteres Bild von Deutschlands und Europas Zukunft – nicht ohne Auswege zu skizzieren. Und mit Humor.
Das Gerücht, dass der als Ministerpräsident von Baden-Württemberg oft gescholtene Oettinger in seinem mittlerweile zweiten Amt als EU-Kommissar geradezu aufblühe, wird nicht nur in Friedrichshafen schon länger kolportiert. Als Stargast des hiesigen Neujahrsempfangs bewies der 61-jährige jetzt auch hier, dass er packende Reden halten kann, ganz ohne sprachliche Ausrutscher.
So kam es am Ende, dass der mit eher verhaltenem Applaus angetretene Oettinger nach seiner Rede mit einem deutlichen Plus an Ovationen wieder von der Bühne abtreten durfte – trotz der Tatsache, dass das Thema seines packenden Vortrags nicht gerade stimmungsaufhellend war. Vielleicht lag es an seiner pointiert komischen Vortragsform mit Spitzen auf FDP, Aktionäre, die Generation 60+ und weit mehr. "Stärker waren wir nie. Stärker werden wir nie mehr sein", hieß dennoch das Leitmotiv, unter dem der CDU-Politiker Deutschlands und Europas wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Lage zu sezieren versuchte.
Dass er Friedrichshafen als Teil dieser Gedanken verstand, wurde nicht nur klar, als er dem Häfler ZF-Konzern zum 100. Geburtstag gratulierte: "Produkte made in Germany sind angesehener als je zuvor", sagte Oettinger. Und dann kam das große Aber: "Wir gehen nicht sorgenfrei in die Zukunft."
Der Grund für seine düstere Prognose: Deutschland sei in drei Kernpunkten aktuell höchst angreifbar – vor allem im Vergleich zum wiedererstarkenden US-amerikanischen Wirtschaftsraum, aber auch im Vergleich zu vielen weiteren Ländern. Wohl die größte Herausforderung sei dabei die Überalterung der Gesellschaft, die Oettinger als "die eigentliche gesellschaftspolitische Herausforderung" bezeichnete. Die Deutschen seien im Schnitt 45 Jahre alt, EU-Durchschnitt seien 39, US-Durchschnitt gar 38 Jahre. Eine Folge davon sei ein exorbitant steigender Druck auf die Sozialsysteme. Es gebe aber auch gravierende indirekte Folgen: "Wer zur ältesten Bevölkerung zählt, dem fallen Reformen zunehmend schwer", nannte Oettinger eine. Zudem laufe eine überalterte Wohlstandsgesellschaft Gefahr, sich vornehmlich um sich selbst zu drehen: "Uns eint was wir nicht wollen: Lärm und Zumutungen", hieß es da mit Blick auf Bürgerproteste, die von Atom- über Kohlekraftwerke bis zur Windkraftanlage und neuen Stromtrasse am liebsten alles verhindern würden, was nicht in den eigenen Vorgarten passe. Dazu komme ein Drang, als Gesellschaft zwar viel zu konsumieren, aber wenig zu investieren - unter anderem in die eigene Infrastruktur.
Als zweite Bedrohung nannte Oettinger die Energiepreise, die in den USA für Gas nur ein Drittel, für Strom die Hälfte der deutschen Kosten betragen würden. Solche Ungleichheiten seien Gift für das produzierende Gewerbe – gewiss auch für ZF am Standort Deutschland.
Kellner oder Koch?
Zuletzt und als dritten Punkt fürchtete Oettinger die gigantische Kapitalstärke der US-Wirtschaft: Mit Google, Apple, Microsoft, Facebook und Amazon hätten fünf US-Unternehmen so viel Börsenkapital vereint, wie die 30 wichtigsten deutschen Unternehmen. Das sei nicht nur Hinweis auf eklatante Unterschiede in der Innovationskraft, auch bestehe die Gefahr, um Vergleich zu US-Riesen stets die zweite Geige zu spielen: "Google will selten Kellner sondern viel lieber Koch sein."
Gegen diese Zeichen der Zeit hilft laut Oettinger jetzt nur die Besinnung auf Innovations- und Reformwillen im alten Europa. Der Ausbau digitaler Infrastruktur sei hochgradig wichtig – und die Kraft der Gemeinschaft unerlässlich: "Ich bitte Sie Häfler und Europäer zu sein", forderte der Gastredner folgerichtig. Zu diesem Begriff gehöre aber auch,, angesichts weltweiter Krisen neu über die Rolle Deutschlands in der Welt nachzudenken. Oettinger: "Wir müssen nicht nur die S-Klasse, sondern Werte exportieren."