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Die Kälte kriecht durch alle Ritzen

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Friedrichshafen / sz - Der erste Eindruck der Dachgeschosswohnung ist ziemlich gut: Wegen der hohen Decke wirkt sie großzügig, an das geräumige Wohnzimmer schließt sich die offene Küche an und auf dem Boden liegt neues, dunkelbraunes Parkett. Aber je länger sich Besucher in der Wohnung aufhalten, umso deutlicher bekommen sie zu spüren, warum es ein Horror sein muss, hier zu wohnen. Die Kälte bahnt sich einen Weg durch alle Ritzen. Sie zieht durch Fensterschlitze, dringt in Kleidungsstücke und kühlt langsam, aber unaufhaltsam, den Körper aus. Eine flackernde Kerze macht sichtbar, wie sich die kalte Luft in der ganzen Wohnung verbreitet.

Radena lebt hier, zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter Sophia (beide Namen geändert). Die Kälte ist entsetzlich, aber die 27-Jährige hat keine andere Wahl. Das war nun einmal die einzige Wohnung, die ihr angeboten wurde. Seit Langem will sie zwar ausziehen. Aber anstelle einer anderen Wohnung bekommt sie nur Absagen. Die meisten Wohnungen kann sie sich ohnehin nicht leisten. Das Kind macht es noch schwieriger: „Als alleinerziehende Mutter findet man hier keine Wohnung“, sagt sie lapidar. „Als ich bei der Stadt war, hat der Mann einen dicken Aktenordner auf den Tisch gelegt und gesagt: ‚Erst kommen die alle dran und dann Sie.‘“ So fühlt sich Radena gerade: wie ein dünnes Blatt Papier, auf dem ein schwerer Aktenordner liegt. Platt gemacht.

Die Wohnungsführung ist kurz und erschreckend. Die beiden großen Fenster alt, die Griffe halten nicht mehr. Einmal, bei einem Gewitter, drückte der Sturm das linke Fenster ein, es krachte mitten in die Wohnung, die Scheibe splitterte. Radena versuchte, das Loch in der Scheibe mit Klebeband und Pappe abzudichten. Gegen die kalte Luft, die nun eindringt, sind die beiden Heizkörper darunter machtlos.

Richtig heiß werden sie nicht, obwohl sie voll aufgedreht sind. Sie gluckern rund um die Uhr, heizen aber nicht. Vor zwei Jahren sei die Temperatur im Badezimmer unter Null gesunken, erzählt Radena. Deshalb schaltet sie einen elektrischen Heizlüfter an, wenn sie ihre Tochter baden will.

Das rächt sich – über die Stromrechnung. Radena zahlt einen Abschlag von fast 240 Euro im Monat. Anfang des Jahres kam dann der Hammer: 1400 Euro Nachzahlung forderte der Stromanbieter ein.

Die letzte Anlaufstelle

Finanziell wäre dies der Genickbruch gewesen – sie hatte nur einen Halbtagsjob als Kellnerin auf 450 Euro Basis. Radena bat die Caritas um Hilfe. Dem Berater, den sie aus der Schwangerschaftsberatung kannte, vertraute sie sich an und er konnte helfen: 800 Euro bekam sie einmalig, um die Stromsperre zu verhindern. Den Rest stotterte sie ab.

Die Caritas ist für Menschen wie Radena häufig der letzte Rettungsanker. Doch die Hilfe der Caritas geht weit über eine „Finanzspritze“ hinaus. Die Berater schauen sich die Lebensverhältnisse der Hilfesuchenden an und unterstützen sie dabei, sie zu ordnen. Ganz besonders achten sie auf die Kinder, so wie Sophia. Denn Kinder wie Sophia leiden unter den Zuständen am meisten. Kindergeburtstage oder Schulausflüge kosten schließlich auch Geld. Radena und Sophia sind kein Einzelfall. „Das ist einer von Hunderten Fällen, die wir hier in der Region haben“, erklärt Ewald Kohler, Leiter der Caritas Bodensee-Oberschwaben. „Zwei Drittel der Menschen, die unsere Beratungsstellen aufsuchen, kommen mit Wohnungsproblemen zu uns.“ Und 80 Prozent aller Menschen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken, haben laut Kohler Energieschulden. „Ein Problem, das wir in den letzten Jahren zunehmend beobachten.

Warum der Vermieter das kaputte Fenster nicht ersetze? „Weil es ihm egal ist“, meint Radena. Nach einem schlimmen Wasserschaden verklagte sie ihn. Das Verfahren ist noch nicht durchgestanden. Im Moment zahlt sie für die 50 Quadratmeter große Wohnung eine auf 430 Euro geminderte Miete, normalerweise sollte sie 615 Euro im Monat kosten.

Wie es weitergehen wird, weiß Radena nicht. Sie faltet ihre Hände, legt sie in den Schoß und drückt ihre Schenkel zusammen, um die Hände zu wärmen. Sie trägt einen Wollpullover, aber kalt ist ihr trotzdem. Sie ist schwanger im dritten Monat und will mit ihrem Freund zusammenziehen. Der wohnt selber in nur anderthalb Zimmern, zu wenig für drei Personen. Nichts wünscht sich Radena sehnlicher, als in eine neue Wohnung zu ziehen. Eine, die warm ist.

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