Friedrichshafen / sz - "Bleiben Sie der tschechischen Literatur treu", sagte Moderatorin Zusanna Jürgens am Ende der gut dreistündigen "Tschechischen Literaturnacht" am Freitagabend im Kiesel. Mit den Autoren Tereza Boucková, Ivan Klima, Petra Hulová und Jaroslav Rudiš sind ganz unterschiedliche Positionen hautnah vorgestellt worden: Werke von Autoren, die auch ins Deutsche übersetzt werden. Nicht nur mit ihren Werken sind sie vorgestellt worden, sondern auch im persönlichen Gespräch – Literatur zum Anfassen.
Zur Enttäuschung der Zuhörer im voll besetzten Kiesel musste der in viele Weltsprachen übersetzte Altmeister, der 84-jährige Ivan Klima, krankheitshalber in Prag bleiben, doch der von ihm gewählte Text wurde gelesen, und Tereza Boucková, die Klimas Familie kennt, konnte von ihm erzählen.
Sehr angenehm leitete Moderatorin Zusanna Jürgens in die Werke ein und führte die Gespräche mit den Autoren. Während Jaroslav Rudiš perfekt Deutsch spricht, verstanden die beiden Autorinnen zwar die auf Deutsch gestellten Fragen, lasen auch selbst die deutschen Übersetzungen, antworteten aber auf Tschechisch – keine leichte Aufgabe für die Moderatorin, die oft wortreich sprudelnden Antworten zu dolmetschen.
"Mein verrücktes Jahrhundert"
Klimas Beitrag wurde von der Schauspielerin Karen Lauenstein gelesen. Ruhig und mit gebotener Distanz las sie seine Erinnerungen an das Ghetto in Theresienstadt, die er in seinem erst auf Englisch erschienenen, jüngsten Buch "Mein verrücktes Jahrhundert" festgehalten hat. Ihn beschäftigt hier die Frage, warum gerade er, mitsamt seinen Eltern und Brüdern, überlebt hat, was keineswegs sein eigenes Verdienst gewesen sei. Eine "perverse Tombola" sei es gewesen, dass sie bis zum Ende des Krieges am Leben blieben. Diese Überlegungen ebenso wie die Eindrücke aus dem Leben im Ghetto gehen unter die Haut.
Hart ist auch, was Tereza Boucková, die jüngste Tochter von Pavel Kohout, in ihrem Roman "Im Jahr des Hahns" erzählt. Hart und sehr ehrlich, wie sie bekennt: "Ich beschreibe das schlimmste Jahr meines Lebens, wo ich keinen Rat mehr wusste." Zwei Kleinkinder hatte sie mit ihrem Mann adoptiert und dann doch noch einen Sohn geboren. Grausam war die Enttäuschung, dass sie das an den Adoptivkindern im ersten Jahr Versäumte auch mit Liebe nicht nachholen konnten. Der eine ist obdachlos und landet im Gefängnis, der andere stiehlt und ertrinkt in Alkohol und Drogen: "Die Tragödie fand in der Pubertät ihren Gipfel", sagt sie. Dennoch sei es jetzt gut so, und trotz der drastischen Schilderungen sei das Buch nicht nur hoffnungslos, sondern es stehle sich immer wieder Humor, auch Ironie hinein.
Nach halbstündiger Pause mit Gesprächen, Snacks und Budweiser folgte die 35-jährige Autorin Petra Hulová, promovierte Bestsellerautorin, die an der Prager literarischen Akademie unterrichtet. Mit Romanen aus der Mongolei wie über eine Prostituierte erregte sie Aufsehen. Sie stellte ihren 2014 erschienenen Roman "Der Abgrund" vor, den es noch nicht auf Deutsch gibt. Einen Teil las sie auf Tschechisch, wobei der deutsche Text auf der Leinwand über ihr erschien, den zweiten Teil las Karen Lauenstein und kostete die skurrilen Situationen lebhaft aus. Denn der Roman ist der Monolog einer älteren Schriftstellerin, die in ihrem Alkoholrausch ständig aus der Realität gleitet. Figuren tauchen auf und entschweben wieder, was ist wahr, was nicht? In stilisierter Art habe Hulová aus ungewöhnlicher Perspektive dennoch Fragen gestellt, die sie selbst als Schriftstellerin beschäftigen: Wie schreibt sie, wie scharf beobachtet sie andere und sich selbst?
"Tote Hosen" 1987 in Prag
Genau beobachtet hat auch Jaroslav Rudiš, der in seinem Roman "Vom Ende des Punks in Helsinki" den 40-jährigen Punk Ole in seiner Bar zurückblicken lässt auf das Konzert der "Toten Hosen" 1987 in Prag, das er als 17-Jähriger besuchte – mit der 16-jährigen Punkerin Nancy, deren Tagebuchnotizen seinen Erzählungen gegenüberstehen. Rudiš’ Sprache lässt an Deutlichkeit nichts aus, auch der Übersetzer hörte sich in der Szene um, um den Ton zu treffen. Haargenau erfahren wir, was am "Friedenskonzert" alles geil war: "Manches kann man sich nicht ausdenken, da habe ich wahre Geschichten einfließen lassen."