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Fast jeder zehnte Häfler ist Muslim

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Friedrichshafen / sz - Kopftuch, lange Bärte, stets den Koran zur Hand - so stellt sich auch mancher Häfler die durchschnittliche muslimische Familie vor. Doch jenseits der Vorurteile gibt es in der Stadt eine Gemeinschaft Tausender Muslime, die die Region über Jahrzehnte mitgeprägt haben und das bis heute tun. Die meisten sind weltoffen, hilfs- und gesprächsbereit. Doch Vorurteile, Benachteiligung und der Ruf Ihrer Religion haben auch hier ihre Spuren hinterlassen.

Ortstermin in einer Wohnung in der Eugenstraße. Es geht eine knarzende Holztreppe ins Dachgeschoss hinauf und oben an der Tür wartet Peri Er. Das golden schimmernde Kopftuch mit Blumenmotiv trägt die gebürtige Türkin mit stolz. Und wer es bislang für ein Symbol der Unterdrückung gehalten hat, wird spätestens an der Türschwelle der Ers eines Besseren belehrt. Die 43-Jährige ist alleinerziehende Mutter: drei Söhne, eine Tochter, Esra, Studentin in Ravensburg. Von einem Ehemann, der hier Frau und Töchter mit grimmigem Gesicht zur Verschleierung zwingen würde gibt es keine Spur. Stattdessen gibt ist frisch dampfenden Cay, türkischer Tee, und türkisches Gebäck für den Gast.

Willkommen bei einer türkisch-muslimischen Familie in Friedrichshafen. Rund 5000 Muslime, andere Quellen sprechen von 7000, gibt es hier laut Schätzungen der DITIB-Gemeinde, der größten muslimischen Gemeinde der Stadt. Das sind knapp zehn Prozent der Bevölkerung. Rund 3000 der hiesigen Muslime sind wahrscheinlich türkischer Herkunft und ihre Familien kamen einst als Gastarbeiter in die Region. Rund 2000 kommen hingegen aus aller Herren anderer Länder – von Afghanistan bis Syrien, den Brennpunktländern heutiger globaler Konflikte. Sie alle wollen in Friedrichshafen ein Leben aufbauen. Oft gelingt das – aber selten ohne Probleme.

Zurück zu Familie Er. "Mein Leben hier ist völlig in Ordnung. Aber meine Familie, meine Kinder, treffen immer wieder auf Vorurteile", sagt Peri Er, die in ihrem Wohnzimmer auf dem großen Sofa Platz genommen hat. Mittlerweile könne Sie die zwar seltener gewordenen, aber immer wieder argwöhnischen Blicke akzeptieren. Die 43-Jährige, die 1987 nach Deutschland gekommen ist, kennt eben die Höhen und Tiefen eines Lebens als Migrant. Mit 15 Jahren hat sie hier die Schule besucht. Und natürlich war die Sprache dann ein Problem. Mit ihrem Hauptschulabschluss reichte es später zum klassischen Migrantenjob: Putzfrau. "Irgendwann wollte ich nicht mehr auf das Sozialamt angewiesen sein", sagt Peri Er heute. 2012 nimmt Sie also an einem Förderprojekt teil. Der erhoffte Absprung gelingt: Heute studiert Peri Er Soziologie.

Erzieherin, Anwalt, Arzt

Vom Berufsziel Erzieherin hält sie nur noch ab, dass so manche christliche Einrichtung keine Frauen mit Kopftuch einstellen mag. So wie Peri Er geht es vielen Muslimen in der Region: Herkunft und Vorurteile machen vielen bis heute das Leben mal mehr, mal weniger schwer. Trotzdem gibt es viele erfolgreiche Muslime in der Stadt - vom Anwalt bis zum Arzt.

Im Kern sind die Muslime der Stadt in drei großen Gemeinden zusammengefasst. Die größte ist die DITIB-Gemeinde mit ihrer Mehmet-Akif-Moschee in der Teuringer Straße (siehe Kasten). Daneben gibt es die Gemeinde des Verbands Islamischer Kulturzentren (VIKZ) und das eng mit der Milli-Görus-Vereinigung zusammenhängende Haus der islamischen Jugend.

Vor allem die letzteren beiden Gemeinden sind auf Bundesebene durchaus nicht unumstritten – gab es doch in anderen Städten auch schon extremistische Umtriebe unter ihrem Namen. Doch für die Muslime in Friedrichshafen ist der Unterschied zwischen DITIB, VIKZ und Co. nach eigenen Angaben nebensächlich: "Die DITIB ist eine Gemeinde, in der sich viele wohlfühlen", sagt etwa Hüseyin Tuncay vom VIKZ, der hier als gemeinsamer Sprecher der drei Religionsgemeinschaften im Integrationsausschuss der Stadt sitzt. "Der Weg von allen drei Moscheen ist der gleiche: Wir orientieren uns am Koran." Während die "Generation unserer Väter" in der Glaubensfrage einst "fixiert" gewesen sei, würden sich diese Grenzen bei der jüngeren Generation auflösen: "Die haben gesagt: Wir bleiben in dieser Gemeinde, wir gehen nicht zur anderen", sagt Tuncay. Heute sehen die Muslime der Stadt diese Frage deutlich liberaler.

Das müssen Sie auch, wenn Sie wahrgenommen werden wollen. "Es kann keine erfolgreiche Integration geben, wenn man die Menschen, die integriert werden sollen, nicht mit ins Boot nimmt", sagt etwa Emel Coban, Sprecherin der DITIB-Gemeinde und Vorsitzende im Häfler Rat der Nationen und Kulturen. Muslime übernehmen in Friedrichshafen Seelsorgeaktivitäten im Hospiz und Klinikum, sprechen mit Bestattern und Friedhöfen über die muslimische, sarglose Bestattung, bieten Sprachförderung für Migrantenkinder oder nehmen an muslimisch-christlichen Gesprächskreisen teil. Auch die Frage, wie Pflegeheime korrekt mit muslimischen Bewohnern umgehen, steht derzeit weit oben auf der Agenda der hiesigen Gemeinschaft der Muslime.

Die wichtigsten muslimischen Gemeinden und Glaubensrichtungen der Stadt

DITIB Mehmet Akif Gemeinde Friedrichshafen: Das ist die größte und bekannteste Gruppe der türkischstämmigen Muslime in Friedrichshafen mit Moschee in der Teuringer Straße. Rund 350 feste Mitglieder gehören der Gemeinde an, die es seit 1987 in Friedrichshafen gibt. Genutzt werden die Moschee und die Angebote von DITIB aber von weit mehr, bis zu mehreren Tausend Muslimen der Stadt. Der hier praktizierte Glaube gilt unter Experten als eher konservativ, doch fern jeglicher extremen Ausformungen.

VIKZ, Verband der islamischen Kulturzentren: VIKZ ist einer der ältesten muslimischen Verbände Deutschlands. In Friedrichshafen besitzt VIKZ eine Moschee in der Möttelistraße und ein Schülerwohnheim für Jungen im Trautenmühlenweg. Hier werden auch religiöse Inhalte vermittelt. Nach Angaben des hiesigen VIKZ unterscheidet sich der praktizierte Glaube nicht von jenem der DITIB-Gemeinde. Es gibt zwei angestellte Pädagoginnen, die auch reguläre Schulnachhilfe anbieten. Manchen Islamexperten gilt der VIKZ wegen seiner strengen Religiösität umstritten. In Friedrichshafen sucht der Verband allerdings aktiv Öffentlichkeit und Dialog – VIKZ-Sprecher Hüseyin Tuncay ist unter anderem Vertreter der drei muslimischen Religionsgemeinschaften der Stadt im Integrationsausschuss. Mitglieder: Rund 150; Nutzer: mehr.

Haus der islamischen Jugend: Die drittgrößte Gemeinde der Stadt mit rund 100 aktiven Mitgliedern und abermals weit mehr Nutzern sitzt in der Rheinstraße. Dort werden Koranlesungen und Aktivitäten für Männer und Frauen angeboten. Im Mittelpunkt steht allerdings die Jugendarbeit. Die meisten Mitglieder der Gemeinde sind auch Mitglieder der islamischen Vereinigung Millî Görüs, die in den 70er- und 80er-Jahren als militant galten. Das Landesinnenministerium beobachtet die Bewegung noch heute. Nach einem Generationenwechsel gilt die Gemeinschaft aber mittlerweile als gemäßigter als früher. In Friedrichshafen sucht sie die Nähe zu den anderen Gemeinden und gilt laut Polizei als absolut unauffällig.

Daneben gibt es Vertreter weiterer muslimischer Bewegungen in Friedrichshafen. Die sehr pazifistischen Alewiten dürften die größte dieser Gruppen sein, sehen sich selber aber nicht direkt als Muslime. Die Bildungsinitiative Bodensee-Oberschwaben in der Charlottenstraße gilt nach SZ-Informationen der modernen, pazifistischen aber wegen undurchsichtiger Strukturen umstrittenen Gülen-Bewegung nahestehend. Vereinzelt soll es noch Vertreter des sehr modernen "liberal islamischen Bunds" geben. Das Bild der Muslime in Friedrichshafen wäre ohne der Nennung der sieben muslimischen Vereine in Friedrichshafen, darunter der "Türkische Arbeitnehmerverein Friedrichshafen", nicht komplett.

Die Schwäbische Zeitung bietet 20 Lesern die Möglichkeit, an einer exklusiven Führung durch die Mehmet-Akif-Moschee teilzunehmen. Termin ist der 8. Mai, 18 bis etwa 19 Uhr. Es gibt auch einen Imbiss. Anmeldungen unter

redaktion.friedrichshafen@schwaebische.de


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