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Friedrichshafen vor 70 Jahren: In Erwartung des nahen Kriegsendes

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Friedrichshafen / sz - Es muss eine gespenstische Atmosphäre gewesen sein, die in Friedrichshafen vor 70 Jahren herrschte. Die Altstadt glich nach elf schweren Bombenangriffen der Alliierten einem Trümmerfeld. Frauen und Kinder waren evakuiert. Wer konnte, flüchtete ins Hinterland. Wie die noch wenigen Zurückgebliebenen am 1. April 1945 das Osterfest feierten ist nicht überliefert.

Nach Auferstehungsjubel und "Halleluja" dürfte es keinem zumute gewesen sein. In Erwartung weiterer Angriffe und des Einmarschs alliierter Truppen waren die meisten geflüchtet beziehungsweise evakuiert. Es gab kaum eine Familie, die nicht Opfer zu beklagen hatte. Mehr als 600 Menschen waren bei den Bombenangriffen auf die Stadt ums Leben gekommen, und für die, die in den Krieg gezogen waren, gab es nur noch schwache Hoffnung. Not, Trauer, Angst, Hilflosigkeit und die Erwartung eines Endes mit Schrecken steckte den Menschen in den Gliedern und lähmt sie.

Währenddessen arbeiteten NS-Verantwortliche und Wehrmacht mit Hilfe von Hunderten Dienstverpflichteten aus ganz Oberschwaben daran, Verteidigungsstellungen rund um die Stadt auszubauen. Am 28. März 1945 verpflichtete NS-Kreisleiter Hans Seibold seine Volksgenossen auf den "Führererlass", wonach bei einem feindlichen Einmarsch alle lebenswichtigen Anlagen zerstört und jedes Haus verteidigt werden sollte.

Zu verteidigen gab es nicht mehr viel. Der im Schloss untergebrachten Kommandantur der Wehrmacht und der NS-Kreisleitung ging es um die Durchsetzung der Ideologie und die soldatische Ehre – eine gefährliche Mischung, die unter dem Ansruch des Gehorsams und der Opferbereitschaft zum Äußersten bereit war und die komplette Vernichtung in Kauf nahm. So weit sollte es zum Glück nicht mehr kommen.

Von Angst getrieben, bearbeiteten Frauen und Männer tagelang den Kommandanten der Wehrmacht, Oberst Albert Gelbrich, die Verteidigung der Stadt aufzugeben, den Volkssturm zurückzupfeifen, die Panzersperren abzubauen und die an Brücken angebrachten Sprengladungen zu entfernen. Vergeblich. Erst als sich der NS-Kreisleiter samt Anhang aus dem Staub machte, nahmen sie das Heft in die Hand. Die Geschichte dieses ebenso dramatischen wie denkwürdigen Sonntags, 29. April 1945 als Friedrichshafen kampflos in die Hände der Franzosen fiel, soll zu einem späteren Zeitpunkt erzählt werden.

Alle Opfer umsonst

"Die Spannung war im April 1945 fast ins Unerträgliche gesteigert", schreib Max Hilsenbeck am 29. April 1950 in der Schwäbischen Zeitung. Die Übergabe der Stadt an die einrückenden französischen Streitkräfte lag genau fünf Jahre zurück. Die Erinnerung war noch präsent und frisch. Für das Grauen fanden die Davongekommenen nur schwer Worte. Alle Opfer sollten umsonst gewesen sein, fragten sich viele und bedienten sich weiter jenes heroischen Vokabulars, das ihnen zwölf Jahre eingetrichtert worden war, und das sie mehr oder weniger bereitwillig übernommen hatten.

Das letzte Osterfest wurde in der kurz zuvor renovierten und mit großen Wandfresken ausgeschmückten Nikolauskirche vermutlich am 9. April 1944 gefeiert. 20 Tage später ging das Gotteshaus in Flammen auf. Der Nachtangriff vom 27. auf 28. April 1944 hatte weite Teile der Altstadt von Friedrichshafen in vernichtet. Die Verheißung "Siehe, ich mache alles neu" schien in weiter Ferne zu liegen. Der Tabernakel der Nikolauskirche mit dieser Aufschrift aus dem Buch der Offenbarung 21,5 war von Kaplan Romer nahezu unbeschadet aus der brennenden Kirche geborgen worden.

Im ehemaligen Kohlenkeller des Spitals hatte die Nikolausgemeinde später eine Kapelle eingerichtet. Verbürgt ist die letzte Taufe vor Kriegsende in St. Petrus Canisius; sie fand im Februar 1945 statt. Der Säugling war russisch und der Pate polnisch.

Kirchliche Festtage konnten die Nationalsozialisten nicht eliminieren. Der Glaube war für die Geplagten ein wichtiger Halt. "Not lehrt beten", heißt es, und Not herrschte überall. Auch und vor allem in den Lagern, in denen Frauen und Männer aus aller Herren Länder – Gefangene, KZ-Häftlinge, Deportierte – für die Rüstungsbetriebe schuften mussten. Die so genannten Fremdarbeiter waren vielfältigen Repressalien ausgesetzt. Dennoch versuchten die von den Betrieben abgestellten Lagerleiter da und dort Menschlichkeit walten zu lassen und so etwas wie Normalität herzustellen. Besonders eindrucksvoll schildert das Josef Neher, der Leiter des Dornier-Lagers Wolga II in Fischbach. Er schickte die Russen und Polen sogar in die Ostergottesdienst nach St. Vitus, was verboten war, besorgte Extrarationen an Lebensmitteln und ließ sie ihre Baracken schmücken. In der Osternacht wurde gesungen und getanzt. So schön Bassstimmen habe er nie mehr gehört, berichtete Neher.

"Christus ist auferstanden"

Auch in anderen Lagern wurde Ostern gefeiert, wie Christa Tholander in ihrem 2001 erschienen Buch "Fremdarbeiter 1939 bis 1945 – Ausländische Arbeitskräfte in der Zeppelinstadt Friedrichshafen" schreibt. Fast lyrisch wird das Osterfest 1944 in einem russischen Kriegsgefangenenlager in Löwental geschildert. Eine größere Ikone war der Mittelpunkt, und der Russe Pjotr, der als Sohn eines Arztes und Lehrers für deutsche Literatur im Lager als Dolmetscher tätig war, begrüßte seine Mitgefangenen mit den Worten "Christus ist auferstanden" – als Antwort kam von den anderen zurück "ja er ist wahrhaft auferstanden".

Das Lager war an diesem Ostertag verwandelt, die Dumpfheit und enge verschwunden, erzählte Wachmann Max Hilsenbeck. Piotr habe die Ikone über tausende Kilometer als kostbarsten Besitz mitgeführt. Am 28. April 1944, nicht einmal drei Wochen später, erhielt die Baracke einen Volltreffer. Wie viele umgekommen sind, weiß man bis heute nicht, sagt Tholander. Piotr war auch unter den Toten.

In Friedrichshafen hielten sich während des Krieges von 1939 bis 1945 rund 14 000 Ausländer aus 28 Nationen zeitweilig oder längerfristig auf, schreibt Tholander in dem Buch. Es waren angeworbene Facharbeiter, Zwangsverpflichtet, deportierte Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häfltinge. Mitte 1943 wurden etwa 1000 KZ-Häfltlinge aus Dachau nach Friedrichshafen gebracht, wo sie beim Luftschiffbau für das V2-Raketenprogramm eingesetzt wurden. Auch zum Bau der Torpedoversuchsanlage in Immenstaad wurden im Sommer 1943 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Osten geholt.

"Das Trauma der Luftangriffe beherrscht die Berichte der Überlebenden", schreibt Tholander. Das Entsetzen darüber, diesen Angriffen schutzlos ausgeliefert zu sein, behielten sie ein Leben lang.

Die Schwäbische Zeitung wird in den kommenden Wochen Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Ihre Erinnerung an das Kriegsende ist um so wertvoller als nur noch wenige von jenen unter uns sind, die diese Zeit noch bewusst miterlebt haben.


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