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Endraß wurde vor 75 Jahren von den Nazis hingerichtet

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Friedrichshafen / sz - Noch heute läuft es einem kalt den Rücken herunter, wenn man das Telegramm liest, das Johanna Endraß heute vor 75 Jahren, am 23. Februar 1940, aus Berlin bekommen hat: "Heute hat Ihr Ehemann der Gerechtigkeit Genüge geleistet." Fridolin Endraß wurde an diesem Tag in Plötzensee hingerichtet.

Was Recht war und was Unrecht war, bestimmten damals in Deutschland allein die Nazis. Und diese hielten den Eisenbahner aus Friedrichshafen für einen Landesverräter. Als Gewerkschafter opponierte er gegen das Hitlerregime, indem er sich 1937 einer Widerstandsgruppe anschloss, Informationen über die Aufrüstung Deutschlands sammelte und Flugblätter verteilte. In der Rechtsauffassung der damaligen Machthaber war "allein die Todesstrafe geeignet, der schweren Schuld und Tat gerecht zu werden" – so steht es im Urteil des Volksgerichtshofs.

Wenn Gerhard Raichle von Fridolin Endraß erzählt, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Der pensionierte Geschichtslehrer am Karl-Maybach-Gymnasium machte sich Anfang der 80er-Jahre dran, die Parteigeschichte der SPD aufzuarbeiten. Bei seinen Recherchen stieß Raichle auf Fridolin Endraß. Dieser war zwar kein SPD-Mitglied, aber als Eisenbahnergewerkschafter sei er der Sozialdemokratie nahegestanden. "Man wusste von diesem Widerstandskämpfer nichts. Besser gesagt, man wollte nichts wissen, wie auch von den KZ-Lagern im Industriegebiet und den Häftlingen, die in ,Zebrakleidung’ durch die Stadt geführt wurden", sagt Gerhard Raichle.

Unterstützt vom Kreisarchivar Elmar Kuhn, gab der KMG-Lehrer und spätere Stadtrat einen Anstoß zur Aufarbeitung dieser bis dahin ausgesperrten Geschichte. Bei der Stadt Friedrichshafen richtete man jetzt ein Stadtarchiv ein und stellte mit Georg Wieland einen kundigen Historiker an. Viele Unterlagen waren im Krieg verbrannt oder gingen verloren. Um so wertvoller waren die Recherchen "freier Historiker", die mit Zeitzeugen sprachen und Dokumente aus Privatbesitz sammelten.

"Eine meiner wertvollsten Quellen war Helene Dach, Frau von Valentin Dach, der in der SPD eine bedeutende Rolle gespielt hat", sagt Raichle. "Sie hat mich zuerst auf Endraß gebracht". Sie habe sich daran erinnert, wie Endraß immer wieder Flugblätter in ihren Briefkasten gesteckt habe. "Es war doch Wahnsinn damals." Endraß sei das wohl bewusst gewesen. Er war jedoch überzeugt, Deutschland damit zu dienen. Hitler würde das Land in einen Krieg führen und damit ins Unglück stürzen, hatte Endraß früh erkannt. Geahnt hätten das zwar viele, doch im nationalen Rausch, der mit dem Überfall auf Polen, der Annexion Österreichs und dem erfolgreichen Blitzkrieg im Westen einherging, seien Bedenken verdrängt worden. Sie öffentlich zu äußern, war gefährlich. Unterstützer habe die Widerstandsgruppe der Eisenbahner deshalb nur wenige gefunden. Ein Dutzend Leute von Stuttgart bis zum Bodensee, mehr seien es nicht gewesen, sagt Raichle.

1998 Platz nach Endraß benannt

Endraß sei bei seinen Aktivitäten von Anfang an von der Gestapo beschattet worden. "Er hatte keine Chance", so Raichle. Gerade weil er sich im Ersten Weltkrieg als Soldat bewährte und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, hätten ihm die Nazis den Widerstand übel genommen. Die Anklageschrift des Oberstaatsanwalts mache deutlich: "Sie wollten an ihm ein Exempel statuieren." Raichle hat eine Kopie der Anklageschrift Anfang der 80er-Jahre aus dem SED-Parteiarchiv bekommen. Die Häfler Sozialdemokraten haben sich nach Aufarbeitung und Bekanntwerden des Schicksals von Endraß dafür stark gemacht, den Widerstandskämpfer öffentlich zu würdigen. Einen ersten Anlauf machten sie beim Erweiterungsbau des GZG und scheiterten an der Ratsmehrheit. 1985 wurde das Haus, in dem heute das Stadtarchiv untergebracht ist, nach dem Nachkriegs-Oberbürgermeister Max Grünbeck benannt. Einen zweiten Anlauf gab es ein paar Jahre später im Zuge des Neubaus der Stiftung Liebenau (Franziskus-Zentrum) auf dem ehemaligen Bahngelände. Ein Pflegeheim und den Platz nach Fridolin Endraß zu benennen, wurde erneut als unpassend abgelehnt.

Die Gelegenheit kam, als klar war, dass das Areal rund um die Ernst-Lehmann-Straße, wo Endraß gewohnt hatte, umgestaltet wurde. 1998 wurde der Platz an der Kreuzung Ernst-Lehmann-Straße und Hofener Straße nach ihm benannt und mit dem von Klaus Schultze aus Überlingen gestalteten Denkmal versehen. Raichle, der ganz in der Nähe wohnt und jeden Tag vorbeigeht, ist im Nachhinein froh, dass es so gelaufen ist. Es steht nur wenige Meter vom ehemaligen Wohnhaus der Familie Endraß entfernt, liegt auf dem Schulweg und passt gut zu den Klinkerbauten.

Der Parteienstreit um die Erinnerungskultur ist längst beigelegt. Alle Fraktionen des Gemeinderats haben sich im Bündnis für Demokratie und Toleranz dazu verpflichtet, jeglicher Form von Extremismus entgegenzutreten und das Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus wach zu halten. Seit 2001 findet am Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (27. Januar 1945) auf dem Fridolin-Endraß-Platz eine Gedenkfeier statt.


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