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„Molly Sweeney“ fordert neue Sichtweisen

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Friedrichshafen / sz - Was für eine Vorstellung hat ein blinder Mensch von Raum? Oder wie stellt er sich Farben vor? Was bedeutet es, sehen zu können? Zentrale Fragen, über die der irische Autor Brian Friel in seinem Theaterstück Molly Sweeney nachgedacht hat. Die Antworten lieferte das Leben selbst, denn Friel bediente sich echter Fälle einer Forschungsarbeit des amerikanischen Hirnforschers Oliver Sacks.

Am Montag war das Stück im Bahnhof Fischbach zu sehen, aufgeführt von den Ruhrfestspielen Recklinghausen in Koproduktion mit dem Theater Lindenhof in Melchingen.

Das Stück handelt von Molly Sweeney, einer Frau, die fast vierzig Jahre lang blind ist, aber eigentlich auch vierzig Jahre lang glücklich. Sie liebt es, zu schwimmen und an Blumen zu riechen. Sie selbst findet, dass sie – gerade weil sie nicht sehen kann – eine direktere und gefühlvollere Verbindung mit der Welt hat. "Wie hätte ich beschreiben können, welche Freude mir meine Welt bereitet?", fragt Molly, die alles berühren muss, um sich ein "Bild" davon machen zu können.

Ohne Einfühlungsvermögen

Dann treten zwei Männer in ihr Leben: Frank (Franz Xaver Ott) als erstes, der damit zufrieden sein müsste, wenn er als notorischer Spinner bezeichnet würde, als unverbesserlicher Enthusiast, der glaubt, die Probleme der Welt und die seines Geldbeutels mit Recherche und Logik lösen zu können. Er quatscht Molly – weil er meint, dass es das Beste für sie wäre – in eine Ehe mit und in eine Augenoperation hinein. Für Mollys Welt der Empfindungen ist er buchstäblich blind, genauso wie für ihre Bedürfnisse.

Und dann ist da noch Dr. Rice (Oliver Moumouris), einst ein begnadeter Augenarzt, der von seiner Scheidung und dem vielen Whiskey innerlich zerfressen wird. Auch er sieht nicht den Mensch in Molly, sondern nur die Chance, die Karriereleiter wieder nach oben zu steigen. Beide Männer, getrieben von ihrer Eitelkeit, treiben Molly aus ihrer Welt hinaus, die vielleicht begrenzter ist als die, der Sehenden. Aber für Molly keinesfalls weniger glückselig.

Es sind drei Stereotype, die auf der Bühne stehen. Jeder erzählt seine Version, seinen Blickwinkel der Geschichte. Ihre Erzählungen sind losgelöst von einem wirklichkeitsnahen Erscheinungsbild. Die Bühne ist so einfach wie genial: Frank und Dr. Rice befinden sich in der sichtbaren Welt, nahe den Zusehern. Molly dagegen bewegt sich in einem Raum, den die beiden Männer nicht betreten – können. So sparsam das Stück mit Kulisse und Requisiten umgeht, so ausgeklügelt ist ausgerechnet das visuelle Konzept und die Beleuchtung: Als Molly ihre Sehkraft erlangt, leuchten ihre Haut und ihr Trainingsanzug in einem grün-roten Komplementärkontrast. So lange, bist ihr Gehirn das Sehen verweigert und Molly wieder in ihre eigene Welt zurückkehrt. Dr. Rice kann es nicht verhindern, da es nicht an den Augen, sondern den Gehirnzellen liegt. Und Frank? Der ist mittlerweile in Äthiopien, um Lachse zu züchten. Zwar können beide Männer sehen. Aber wie sagt es Dr. Rice selbst: "Sehen bedeutet nicht verstehen."

Wer sich auf eine philosophische Reise in die Welt der Blinden machen möchte und die äußerst gelungene – sehenswerte – Aufführung im Bahnhof Fischbach verpasst hat, dem sei geraten, das Stück von Brian Friel zu lesen: Ist es jede Silbe wert.


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