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Wenn Kinder eine Familie brauchen

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Friedrichshafen / sz - Der Bodenseekreis sucht laufend nach Pflegefamilien. Zwar sind die fast 80 Kinder, die gegenwärtig ein vorübergehendes Zuhause brauchen, gut untergebracht. Aber es ist immer hilfreich, wenn es mehrere Familien zur Auswahl gibt. Die Pflegeeltern müssen derweil ein starkes Nervenkostüm haben. Und ein großes Herz.

So wie Günther und Manuela Bachler (Namen redaktionell geändert), die in ihrer gemütlichen Küche in einem Mehrfamilienhaus in einer winzigen Gemeinde im Bodenseekreis sitzen und darüber sprechen, wie das so ist, Pflegeeltern zu sein. Kaffee und Süßigkeiten liegen auf dem Tisch. Da quiekt es plötzlich im Flur. Laut lachend kommt die kleine Leonie durch die Küchentüre getrampelt, ruft „Papa“, und steuert geradewegs auf Günther zu. Leonie, die eben erst zu laufen gelernt hat, ist zu klein, um zu verstehen: Günther ist nicht ihr wirklicher Papa. Er ist ihr Pflegevater. Für Leonie aber macht das keinen Unterschied. Der „Papa“ nimmt sie hoch, legt sie sich auf den Kopf und schüttelt sie gut durch. Und Leonie lacht und Leonie gluckst und Leonie ist deshalb ein glückliches Kind.

Das blonde Mädchen war noch nicht lange auf der Welt, da war bereits klar, dass sie nicht bei ihrer leiblichen Mutter bleiben kann. „Wenn es um die Langzeitpflege geht“, erklärt Marion Jockers, die beim Landratsamt Bodenseekreis für Pflegefamilien verantwortlich ist, „handelt es sich oft um Fälle, bei denen sozialpädagogische Hilfe vorangegangen ist.“

Deshalb sei es in den meisten Fällen früh möglich, eine passende Pflegefamilie für das Kind zu finden. Die Eltern, oft sehr jung und überfordert, willigten in den meisten Fällen freiwillig ein, das Kind in die Obhut einer Pflegefamilie zu geben. „Den Weg übers Gericht gehen wir ganz selten“, erklärt Jugendamtsleiterin Simone Schilling, „nicht mal in fünf Prozent der Fälle kommt das vor.“

Kinderlachen ist das Schönste

Manuela ist Mitte vierzig, so wie ihr Mann. Zwei Kinder haben sie bereits in ein selbstständiges Leben entlassen. Ihre jüngste Tochter, Karla, ist vier Jahre alt. Warum dann noch ein Pflegekind aufnehmen? „Ich liebe das einfach, Kinder um mich zu haben“, sagt Manuela. „Es gibt nichts Schöneres, als wenn Kinder lachen.“

Als Leonie zu den Bachlers kam, da war sie nur wenige Wochen alt, und Manuela verliebte sich sofort: „Die war zuckersüß, die musste man gleich lieb haben.“ Und Karla habe sie sofort als Schwesterchen angenommen.

Dass die Integration in die Familienstruktur so problemlos verläuft, ist nicht immer gewährleistet. Unvorbelastete Kleinkinder sind eine Sache. Doch je älter die Kinder sind, umso schwieriger wird es – für die Pflegefamilie und für das Pflegekind.

Vor Leonie nahmen die Bachlers bereits ein zehnjähriges Mädchen bei sich auf, drei Monate lang. Das war nicht gerade einfach, denn das, was das Mädchen von den leiblichen Eltern an Erziehung gewöhnt war, deckte sich nur wenig mit dem, was die Bachlers sich darunter vorstellten. Elterliche Fürsorge ist für viele Kinder eine ganz neue Erfahrung. „Oft müssen diese Kinder sich die Brote selber schmieren“, erklärt Marion Jockers. „Außerdem ist wichtig, dass die Kinder bei den Pflegefamilien lernen, dass sie auch mal Kind sein dürfen.“

Alle Pflegeeltern, die ein Kind bei sich aufnehmen, werden vorher und währenddessen von Psychologen betreut. Konfliktberatung. Die hat sehr geholfen, findet Günther, um sich in das Kind einfühlen zu können: „In einer ruhigen Minute denke ich drüber nach, wie die Eltern denken. Dann entwickelt sich viel Verständnis von alleine.“ „Aber die leiblichen Eltern lieben ihre Kinder auch“, ergänzt Jockers, „bei denen ist nur viel schief gelaufen im Leben“.

Deshalb – weil die leiblichen Eltern ihre Kinder in der Regel nicht verstoßen, sondern sie nur vorübergehend in Obhut geben, bis sie ihre eigenen Probleme gelöst haben – ist die Aufnahme eine Pflegekindes auch keineswegs mit einer Adoption zu vergleichen. „Das Ziel ist es immer“, sagt Jugendamtsleiterin Schilling, „dass die Kinder wieder zurückkehren in ihre Herkunftsfamilie“. Im Durchschnitt bleiben die Kinder im Bodenseekreis etwa vier Jahre bei ihren Pflegeeltern. Dann heißt es Abschied nehmen.

Rückführung ist immer das Ziel

Manuelas Miene verfinstert sich bei diesem Gedanken. „Ich verdränge das jetzt einfach“, sagt sie, „ich habe es natürlich im Hinterkopf, aber ich möchte mich jetzt nicht damit auseinandersetzen“. Für einen kurzen Augenblick zucken ihre Gesichtsmuskeln. „Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Leonie wieder zu ihrer Mama zurückkehren kann.“ Wie es sich in der Seele dabei anfühle, sei etwas anderes. „Das ist ja nichts Fertiges, was da kommt“, bringt es Günther nüchtern auf den Punkt, „an einem Haus, das man selber baut, hängt man auch mehr als an anderen“. Etwas wegzugeben, das man lieb gewonnen hat, fällt jedem Menschen schwer.

„Die Rückführung in die Herkunftsfamilie ist gerade für Pflegefamilien eine große Herausforderung“, sagt Simone Schilling. „Der Kinderwunsch lässt sich durch eine Vollzeitpflege jedenfalls nicht erfüllen.“ In den seltensten Fällen blieben die Kinder so lange, bis sie selbstständig seien. Pflegefamilien müssten auch sehr tolerant sein. Sie dürften die leiblichen Eltern nicht verurteilen, denn diese sollen das Kind auch regelmäßig sehen. Vielfach leiden die leiblichen Eltern auch darunter, dass das Kind nicht bei ihnen leben kann. Dann gibt es Vorwürfe, schlimmstenfalls stehen die Kinder dazwischen, sagt Jockers. „Das akzeptieren zu können, dass das Kind zu jemand anderen gehört, dazu gehört eine ganz, ganz hohe emotionale Kompetenz.“

So was, wie die ideale Pflegefamilie gibt es derweil gar nicht. Manche haben eigene Kinder, manche nicht. Manche nehmen nur Kleinkinder bei sich auf, manche nur schulpflichtige. „Wir suchen Familien“, erklärt Marion Jockers, „bei denen erkennbar ist, dass ein Kind genügend Raum in ihrem Leben hat“. Das sei sowohl für den Wohnraum als auch für den Geldbeutel so zu verstehen. „Wir nehmen keine Familien, die es nur des Geldes wegen machen.“ Zwischen 800 und 900 Euro gibt es monatlich, steuerfrei. Geprüft würden aber auch die Gesundheit und die Einstellung in Erziehungsfragen.

Gegenwärtig sind es 95 Familien im Bodenseekreis, die den hohen Ansprüchen gerecht werden können. Jede weitere, die dazu kommt, ist ein Geschenk des Himmels. Deshalb veranstaltet das Jugendamt viermal jährlich einen Informationsabend, um auf immer möglichst viele Familien zurückgreifen zu können.

Ein genauer Blick entlarvt zwar, dass Leonie ihren Pflegeeltern nur wenig ähnelt. Trotzdem fällt es den wenigsten auf, dass Leonie ein Pflegekind ist. Tut es das, spielt das für die Bachlers keine Rolle. Die Reaktionen von Verwandten und Bekannten seien gemischt, von Unverständnis bis Bewunderung sei alles dabei gewesen. „Ich würde es sofort wieder machen“, sagt Manuela ohne zu zögern. „Vielleicht nicht mit einem Säugling.“ Die körperliche Belastung sei eben doch enorm.

Marion Jockers zeigt sich jedenfalls dankbar: „Die Kinder brauchen Familien wie die Bachlers. Sie brauchen Familien, die sie liebevoll aufnehmen. Denn auch sie haben einen guten Start ins Leben verdient.“

Weitere Informationen gibt es bei Marion Jockers in der Pflegefamilienarbeit des Landratsamts unter Telefon 07541 / 204 50 58.


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