Friedrichshafen / sz - An seinen Geruch konnte sie sich sofort erinnern. Und an seine Haut. Zwar hat Paulina Salas (Crescentia Dünßer) ihren Peiniger nie zu Gesicht bekommen, denn ihre Augen waren verbunden, während sie mehrere Wochen lang gequält, gefoltert und vergewaltigt wurde. Aber in ihre übrigen Sinne brannte sich jedes Detail ein. Auch die Musik, Schuberts „Der Tod und das Mädchen“, das immer dann im Hintergrund lief, wenn der Doktor zu ihr kam. Hinter der Gewalt steckten allerdings keine Triebtäter. Sondern ein Terrorregim übte auf diese Weise strategisch brutalen Einfluss auf sein Volk aus.
Ariel Dorfmans Kammerspiel „Der Tod und das Mädchen“, das am Dienstagabend im Bahnhof Fischbach gezeigt wurde, beginnt etwa 15 Jahre nach der Schreckenstat. Die Diktatur wurde mittlerweile abgeschafft und Paulina ist verheiratet. Und zwar mit dem Anwalt Gerardo Escobar (Oliver Jacobs), der dafür auserkoren wurde, den Vorsitz einer „Wahrheitskommission“ zu übernehmen. Diese Kommission soll die Menschenrechtsverletzungen aufklären, in der Zeit der Diktatur geschahen.
Zufall oder Schicksal?
Nun will es der Zufall, dass Gerardo einen Herren zum Essen nach Hause einlädt, der ihm bei einer Autopanne geholfen hat. In diesem Mann, Doktor Roberto Miranda (Berth Wesselmann), erkennt Paulina ihren Peiniger wieder: seinen Geruch, seine Haut und seine Stimme. Oder ist das Schicksal?
Ohne dass Gerardo es mitbekommt, überwältigt Paulina den Doktor, fesselt und knebelt ihn, und droht ihm, mit der Pistole in der Hand, ihn zu töten. Wenn er seine Taten gesteht, will sie den Doktor gehen lassen. Gerardo kommt ins Spiel und versucht – vor allem in Hinblick auf seine Karriere – zu retten, was zu retten ist. Leicht ist das nicht, denn der Doktor beteuert, dass Paulina ihn verwechsele und er nichts mit der Sache zu tun habe. Für Gerardo stellt sich die Frage: Wem schenkt der Glauben? Im Raum steht allein die Ungewissheit, ob Doktor Miranda unschuldig ist oder ein Handlanger des ehemaligen Terrorregimes.
Streicher hallen wie dumpfe Schmerzen durch den Raum
Die Stück findet in einem kargen Raum statt. Die Wände sind grau und kahl, drei grüne Türen versprechen Flucht, sind aber gelegentlich auch verschlossen. An der Decke hängen Neonröhren. Es drängt sich die Beklemmung eines OP-Saals auf. Ja, hier haben Menschen Schmerzen gehabt. Und hier wird noch ein weiterer Mensch Schmerzen haben. Mit auf der Bühne steht eine Musikerin, Nina Wurman, die mit Kontrabass und Stimme einen Klangteppich über das Stück legt, der die beklemmende Wirkung der Kulisse unterstreicht. Die tiefen Streicher hallen dank digitaler Tontechnik wie ein endloses Echo durch den Raum. Sie hängen fest wie dumpfe Schmerzen, verursacht von den Qualen, die abscheuliche Menschen einst anderen Menschen zugefügt haben.
Die drei Schauspieler gehen in ihrem Spiel an keine Grenzen. Sie spielen intensiv, aber sie wären noch zu mehr imstande gewesen. Mehr Hass, mehr Zorn, mehr Qual, mehr Angst wären drin gewesen. Aber es ist gut, dass es nicht so war. Das Stück von Ariel Dorfman, einem argentinischen Dramatiker, der 1942 geboren wurde, reibt die Nerven ohnehin zur Genüge auf. Und seine Dramaturgie beschäftigt den Zuschauer: War er es wirklich? Hat er es verdient? Hat er vielleicht noch viel schlimmeres verdient, als Paulina sich ausgedacht hat. Gerardo gibt seiner Frau am Ende eine deutliche Antwort: „Ich werde meine Seele nicht beschmutzen mit einem wie ihn.“