Friedrichshafen / sz - Grenzgänger zwischen Genie und Wahnsinn? Am Landgericht Ravensburg hat am Dienstag der Prozess gegen einen 25-jährigen Häfler begonnen. Oberstaatsanwalt Karl-Josef Diehl wirft dem studierten Physiker Geiselnahme, Körperverletzung und Sachbeschädigung vor. Schon zu Prozessauftakt machte das Schlagwort der Schuldunfähigkeit des jungen Täters die Runde. Eines Mannes, der seit der Tat im April dieses Jahres in der geschlossenen Psychiatrie sitzt.
Was zur Mittagszeit des 29. April passiert ist, Jürgen Hutterer als Vorsitzender der Strafkammer sprach von „Horrorszenario, bei dem zwei Männer um ihr Leben bangen mussten“. Für eines der Opfer im Zeugenstand ist es ein „gefühlt dreistündiges Martyrium“ gewesen: Der junge Mann drang mit brachialer Gewalt in ein Bürohaus in Immenstaad ein. „Außer Rand und Band“ (Hutterer) trat er Türen ein, demolierte komplette Büroeinrichtungen, riss Zimmerpflanzen aus den Töpfen und zerstörte mit einem in den Geschäftsräumen gefundenen Küchenmesser Gemälde. Vor allem aber, mit dem Messer bedrohte er zwei jeweils 64-jährige Männer. Bei Drohungen, selbst Todesdrohungen ist’s aber nicht geblieben. Es folgten Messerattacken mit mehr oder weniger starken Schnittwunden. Und, besonders skurrile Tat innerhalb des 55 Minuten dauernden Zwischenfalls: Der Eindringling zwang mit vorgehaltenem Messer einen der Männer zum Schachspiel. Das Spiel wurde eröffnet. Und jedes Mal, wenn das Opfer einen Fehler gemacht hat, hagelte es Schläge ins Gesicht.
„Alles ist so geschehen, wie es der Staatsanwalt vorgetragen hat, meinte der junge Täter. Reue? Fehlanzeige. Das Motiv: Er sei von der Eingebung getrieben worden, die zwei Opfer hätten seiner Mutter (die als Informatikerin in dem Bürohaus arbeitet) „etwas schlimmes angetan“. Da war von Mobbing und von sexueller Belästigung die Rede. So entwickelte sich das Schachspiel „als Kampf für die Mutter“, sagte der Angeklagte. Und der Überfall wurde zum Racheakt. Im Spiel erhielt die Mutter die Rolle der weißen Dame: „Wenn ich im Spiel dabei bin, kann ihr nichts mehr passieren“, meinte der junge Mann weiter.
Jürgen Hutterer versuchte innerhalb der Beweisaufnahme ein Psychogramm des Angeklagten zu zeichnen: Er ist behütet aufgewachsen. Ein gutes Abitur folgte, auch ein ausgezeichneter Bachelor-Abschluss als Physiker. Der „hohen Intelligenz“ (Hutterer) aber standen Probleme bei der Stressbewältigung, Ängste und Selbstzweifel, vor allem aber Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsverschiebungen gegenüber. So habe er immer wieder hat er den Bezug zur Realität verloren, wie der Mann auf der Anklagebank selbst einräumte. So sah er sich einmal als Prophet, dann auch mal als Mensch mit magischen Kräften. Selbst „Gottesähnlichkeit“ geisterte durch den Gerichtssaal. Während seiner Umwelt (und selbst seiner Mutter im Zeugenstand) nichts Außergewöhnliches an dem Häfler aufgefallen ist, analysierte er selbst seine Gedankengänge, führte „die Psychosen auf Schlafmangel“ zurück. Den Gang zu einem Psychiater hat er selbst in Erwägung gezogen. Dazu gekommen ist’s nicht.
Die Tat: „Die schlimmsten Dinge, die ich gemacht habe, habe ich ausgeblendet, sie zum Selbstschutz aus dem Gedächtnis gestrichen.“ Die angegriffenen Männer seien mit Verblüffung und Feindseligkeit ihm gegenübergetreten, und als er den Tatort wieder verlassen hatte, da glaubte er, „die Tat sei niemals geschehen.“ Die Flucht aus dem Bürohaus endete am Campingplatz, wo er um Hilfe nachsuchte. Dort traf unmittelbar nach dem Alarm auch die Polizei auf den „apathisch wirkenden Mann“ (Polizist im Zeugenstand). Festnahme, Beruhigungsspritze im Häfler Klinikum und Einlieferung ins Psychiatrische Landeskrankenhaus in Weissenau folgten. Fixierung nach Selbstmordversuch oder eine fehlgeschlagene Flucht, um sich umzubringen, sollten für den jungen Häfler zum Alltag innerhalb der geschlossenen Psychiatrie gehören.
Heute, sechs Monate nach der Tat, „befinde ich mich wieder in einem stabilen Zustand“, sagte der Angeklagte. Nach eigener Einschätzung erwartet ihn nun „eine längere Zeit in der Psychiatrie“. Und, wieder in Freiheit, will er auf den Bachelor einen Master im Studienfach Elektrotechnik draufsetzen.
Das Urteil wird am Freitag, 21. November, erwartet.
Fortsetzung des Prozess es ist Mittwoch, 12. November. Das Urteil wird am Freitag, 21. November erwartet.