Friedrichshafen / sz - Seit diesem Schuljahr gibt es mit Graf Soden und Schreienesch auch in Friedrichshafen zwei Gemeinschaftsschulen – nach langer Vorbereitungszeit und politischen Debatten. Was sind die Vorzüge und Besonderheiten der neuen Schulform? Die Schwäbische Zeitung hat mit Betroffenen gesprochen und sich umgesehen.
Die Gemeinschaftsschule ist eine Schule für alle sein, egal mit welcher Begabung. Vier fünfte Klassen an der Graf-Soden-Schule und zwei an der Gemeinschaftsschule Schreienesch sind mit der neuen Schulform ins aktuelle Schuljahr gestartet. Die Zusammensetzung der Klassen hat sich dadurch stark geändert: Plötzlich gebe es einige Schüler mit sehr hohem Leistungsvermögen in den früheren Werkrealschulklassen der fünften Jahrgänge, erzählt Thomas Strobel, Rektor der Gemeinschaftsschule Schreienesch.
Iris Engelmann, Rektorin der Gemeinschaftsschule Graf Soden, möchte nicht nur von den Besonderheiten berichten: Voller Elan lädt sie zusammen mit Konrektor Kai Nopper zu einem Rundgang durch die Schule ein, um den Schulalltag zu erleben. Wir treffen Panica und Jonathan aus der fünften Klasse an einer Schulbank sitzend – aber nicht etwa im Klassenraum, sondern auf dem Flur. Gerade lernen sie individuell – ein wichtiger Baustein der Gemeinschaftsschule. Dabei dürfen sich die Schüler frei bewegen, um eigenverantwortlich und auf ihrem jeweiligen Niveau zu lernen. "Ich lerne ein Märchen richtig vorzulesen", sagt Panica. Zehn Stunden in der Woche dürfen die Schüler individuell arbeiten. Frei bewegen darf sich, wer einen Goldbutton erhalten hat – den gibt es allerdings erst, wenn man die Unterschrift von den drei Hauptfachlehrern und dreier Mitschüler bekommen hat. "Wer ärgert oder andere vom Arbeiten abhält, bekommt von seinen Freunden vielleicht keine Unterschriften", erklärt Engelmann. So werden auch soziale Kompetenzen vermittelt. Fachlehrer stehen für Fragen immer zur Verfügung.
Gemeinsames Lernen
Gemeinsames Lernen komme aber nicht zu knapp, erklärt Strobel. Kinder mit unterschiedlichem Leistungsvermögen würden einander helfen und profitierten voneinander. "Man kann länger zusammen bleiben und es gibt keine Noten", erklärt Strobel die Vorzüge der Gemeinschaftsschule. Dadurch falle die Leistung aber nicht weg. "Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es dadurch höhere Leistungsorientierung gibt", sagt Iris Engelmann. Jedes Kind sei gefordert, auf seiner Niveaustufe etwas zu tun, um den nächsten Schritt zu gehen. Den Schülern werde die nötige Zeit gegeben, sich zu entwickeln, und sie würden eng begleitet: "Es wird immer geschaut, was für das einzelne Kind als nächstes ansteht", so Thomas Strobel. Drei Niveaustufen, den Bildungsstandards von Gymnasium, Real- und Hauptschule entsprechend, dienen den Kindern als Orientierung.
In regelmäßigen Coaching-Gesprächen werden die Arbeitshaltung besprochen und neue Ziele vereinbart. "Es wird gefragt, wie es mir in der Schule geht, wie ich gearbeitet habe und ich kann über alles mit den Lehrern sprechen, weil wir alleine sind", sagt Leon aus der fünften Klasse der Graf Soden-Schule. Die inhaltlichen und methodischen Neuerungen sind bei Graf Soden nichts neues, hier ist schon seit Jahren in ähnlicher Form gearbeitet worden.
Noten gibt es nur in den oberen Klassen noch, während die Fünftklässler individuelle Leistungsberichte und Lernstandsberichte auf ihrem jeweiligen Arbeitsniveau erhalten. Es werden die Standards der Haupt- und Realschule sowie des Gymnasiums angeboten und umgesetzt.
Schule als zuhause
Auch an der Schreienesch-Schule wurde laut Strobel schon immer individualisiert gearbeitet. Engelmann erklärt, dass bereits seit längerer Zeit Schüler verschiedener Leistungsniveaus die Realschule besuchen. Durch die Umstellung auf die neue Schulform gebe es jetzt auch die dazugehörigen Ressourcen: zum Beispiel den Ganztagesbetrieb. Damit wird die Schule zum Lern- und Lebensraum – "Schule als zuhause" durch erhöhte Identifikation.
Drei feste Nachmittage gibt es in den Ganztagesschulen. Weitere können hinzu gebucht werden. Da gibt es dann kostenlose AG-Angebote: Die Schüler können sich zum Beispiel sportlich, musikalisch oder technisch ausleben. Durch das Ganztageskonzept hätten auch Lehrer mehr Zeit für ihre Schüler, erklärt Strobel. Die Kinder haben laut Engelmann dadurch keine Hausaufgaben. "Lernen muss in der Schule mit den Lehrern passieren", findet sie. Für berufstätige Eltern bringt es zudem eine Entlastung, erklärt Petra Magnus, Elternbeiratsvorsitzende der Graf Soden-Schule.
Bei der Inklusion von Kindern mit erhöhtem Förderbedarf spielen Gemeinschaftsschulen noch eine Vorreiterrolle: "Im Moment ist die Gemeinschaftsschule die einzige Schule, wo die Inklusion im Gesetz verankert ist", erklärt Strobel. Etwa 30 Kinder seien an der Schreienesch-Schule integriert; sechs Sonderschullehrkräfte unterstützen sie. Sorgen, dass manche Kinder dadurch eingeschränkt würden, seien beseitigt: "Jeder arbeitet auf seinem Niveau", sagt Strobel.
Sechs Gemeinschaftsschulen gibt es derzeit im Bodenseekreis. Vier davon – in Tettnang, Salem und die beiden in Friedrichshafen – sind erst in diesem Schuljahr hinzu gekommen.
Im Schuljahr 2012/13 ist die neue Schulform in Baden-Württemberg das erste Mal umgesetzt worden. Die grün-rote Landesregierung möchte mit ihr für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen.
Ein wichtiges Element dabei ist laut Klaus Moosmann, Amtsleiter des Staatlichen Schulamts Markdorf, der Ganztagesbetrieb. Dadurch erhalten nicht nur diejenigen besondere Unterstützung durch Nachhilfe, die es sich leisten können. Jedes Kind soll nach seinen Möglichkeiten bestmöglich gefördert werden.
Es werden die Standards der Haupt- und Realschule sowie des Gymnasiums angeboten. Noten und Versetzungen gibt es keine mehr.
Alle Gemeinschaftsschulen setzen die Inklusion um, das heißt alle Kinder – ob mit oder ohne Behinderung – lernen gemeinsam.